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Die Erstbesteigung des Matterhorn

  Die Kolonne verließ Zermatt am 13. Juli 1865 um 5.30 Uhr und übernahm um 8.20 Uhr das Material in der Kapelle am Schwarzsee. An Seil waren aus dem Besitz Edward Whymper vorhanden: 200 Fuß (ca. 60m) des vom britischen Alpen Club entwickelten offiziellen Clubseils, 150 Fuß (ca. 45m) einer von Whymper als noch stärker bezeichneten Sorte und 200 Fuß eines schwächeren Seils, welches Whymper benützt hatte, ehe das offizielle Clubseil eingeführt war. Man muß annehmen, dass die verschiedenen Seilarten jeweils nicht im einer Länge vorhanden waren. Um die Seile wird sich schließlich die Frage der Verantwortlichkeit bei der Katastrophe drehen.

  Um 11.30 Uhr erreichte die Kolonne die Stelle, wo der Hörnlirücken bei ca. 3350m in den eigentlichen Matterhornanstieg übergeht. Hier wurde Zeltbiwak bezogen. Am Nachmittag rekognoszierten Croz und der jüngere Taugwalder und kamen um 15.00 Uhr mit zuversichtlichem Bericht zurück. Der jüngste Taugwalder stieg wieder nach Zermatt ab.

  Am 14. Juli verließen die sieben Mann bei Tagesanbruch das Biwak. Der Anstieg erfolgte ohne Schwierigkeiten, meist in der Flanke, gelegentlich über den Grat selbst. Das Seil wurde nicht gebraucht. Hudson und Whymper führten abwechselnd. Um 6.20 Uhr wurde in der Höhe von rund 3900m ein Halt von 30 Minuten, um 9.55 Uhr in einer Höhe von 4200m ein solcher von 50 Minuten eingeschaltet. Erst für die knapp 300m wurde angeseilt. Michel Croz übernahm nun die Führung; ihm folgten Whymper, Hudson, Douglas, Taugwalder Sohn, Hadow und am Schluß Taugwalder Vater. Der Anstieg erfolgte stark rechts (westlich) des heute durch Seile gesicherten Weges. Hadow erwies sich bereits hier als schwächer und brauchte ständig Hilfe. Als das schneebedeckte "Dach" des Horns erreicht war, entledigten sich Croz und Whymer des Seils und eilten den andern voraus. Um 13.40 Uhr erreichten die Beiden den Schweizer Gipfel, bald darauf auch den italienischen. 10 Minuten später langten auch die übrigen auf dem Schweizer Gipfel an. Auf dem italienischen Gipfel wurde ein Steinmann errichten und auf dem Schweizer Gipfel mit der blauen Savoyardenbluse von Michel Croz ein Fahnensignal improvisiert. Die Freude war überschwänglich. In Zermatt beobachtete man durch das Fernrohr die Partie auf dem Gipfel. Die Champagnerzapfen gingen hoch. Die Engländer hatten über die Italiener, Zermatt über Breuil gesiegt. Zermatt stand eine große Zukunft bevor.

  Vom italienischen Gipfel gewahrten Croz und Whymper die italienische Kolonne unter Führung von J.-A.Carren im Abstieg, nachdem sie der vorgerückten Zeit wegen - in Unkenntnis, daß die Engländer von Zermatt aus im Aufstieg waren - rund 220m unterhalb des italienischen Gipfel umgekehrt war. Durch Rufen und Hinunterrollen von Steinen zeigten Whymper und Croz den Italienern ihre Anwesenheit auf dem Gipfel an.

  Die Partie blieb eine Stunde auf dem Gipfel bei gutem Wetter, in guter Verfassung. Um 14.40 Uhr begann der Abstieg. Nach Whympers Darstellung hat er selbst mit Hudson die Reihenfolge vereinbart. Croz als der Kräftigste sollte vorangehen, gefolgt vom Schwächsten, Hadow. Als Dritter sollte der sichere Hudson folgen, dann Douglas und Vater Taugwalder. Whymper selbst war beim Abmarsch nicht aufmerksam. Niemand kontrollierte das Anseilen und traf die endgültige Anordnung. Whymper zeichnete noch eine Skizze auf dem Gipfel, als es einem der übrigen einfiel, sie hätten ihre Namen in einer Flasche zurücklassen können. Whymper holte dies noch nach, während die andern schon im Abstieg waren.

  Whymper band sich nun mit dem jüngeren Taugwalder an ein Seil und folgte den andern. Er holte sie ein, als sie eben die schwierige Stelle gegen das untere Ende auf der Nordseite des "Dachs" erreicht hatten. Die Stelle war nicht sehr steil, nur etwa 35° geneigt, aber durch Schnee und Eis glitschig und bot auf abschüssigen Platten nur wenig Halt. Whymper behauptet, man habe größte Sorgfalt beobachtet. Nur ein Mann habe sich jeweils bewegt, während die anderen im Stand sicherten. Merkwürdigerweise aber unterließ man es, das zu tun, was man auf dem Gipfel angeblich vorgesehen hatte, nämlich ein Stück von dem überreich vorhandenen Seilvorrat an den Felsen zu befestigen, um sich zusätzlichen Halt zu geben. Die Entfernung vom einem zum andern betrug nach Whymper durchschnittlich 20 Fuß, also etwa 6m. Dem Straffen des Seils scheint man wenig Beachtung beigemessen zu haben; aus dem Zusammenhang zu schließen, war das Seil im Augenblick des Unglücks nirgends gestrafft. Da Hadow sehr unsicher war, scheint man ein Ausgleiten jeden Augenblick befürchtet zu haben. Whymper bezeugt, dass ihn Douglas nach dem Aufschließen ausdrücklich aufgefordert habe, sich mit Taugwalder Sohn auch noch mit den übrigen zu verbinden, da der ältere Taugwalder allein kaum werde halten können, wenn einer der andern ausgleite. Die Verbindung aller zu einer einzigen Seilschaft mittels verschiedener Stücke von Seil erfolgte etwa 10 Minuten vor dem Unglück.

  Der Hergang der Katastrophe wird nie völlig erhellt werden können. Sie spielte sich in zu kurzer zeit ab, und unter dem Eindruck des Schreckens dürften die Überlebenden, Whymper und die beiden Taugwalder, die Einzelheiten Geschehens nicht richtig aufgenommen haben. Die Ursache scheint wirklich bei Hadow gewesen zu sein, der nach Whymper so unsicher war, daß Croz seine Eisaxt beiseite legte, um Hadow bei den beiden Beinen zu fassen und diese Tritt für Tritt in die richtige Stellung zu bringen. Wahrscheinlich ereignete sich das Unglück, als Croz sich wenden wollte, um ein paar Schritte abwärts zu tun. Hadow verlor den Halt, stürzte vornüber auf Croz und warf ihn um. Hudson und Douglas, zu denen das Seil offenbar nicht gestrafft war, wurden aus ihrer Stellung gerissen. Whymper und der ältere Taugwalder hörten einen Schrei von Croz, stemmten sich angeblich gegen den Fels und hielten - aber das Seil zwischen Lord Douglas und Vater Taugwalder riß. Später sagte der ältere Taugwalder noch aus, daß Michel Croz, sich an die Felsen klammernd, eine Weile noch mit riesiger Kraft ausgehalten habe, dann aber sein letzes Wort "impossible" ausstieß, mit den unglücklichen Seilgefährten den Abhang hinunter glitt und mit furchtbaren Schrei über die Kante des "Dachs" in den Abgrund stürzte.

  Die Geschichte vom Seilriß hat viel zu reden gegeben. Sofort nach dem Bekanntwerden bemächtigte sich die Sensationspresse des Unglücks und lancierte das Gerücht, Vater Taugwalder oder Whymper hätten das Seil zerschnitten, um sich das Leben zu retten. Der damals angesehene österreichische Bergschriftsteller Alfred Meißner machte in der Wiener "Neuen Freien Presse" seine "sensationelle Enthüllung", indem er mit der Anschaulichkeit eines Augenzeugen schilderte, wie hinter den zu Tode erschöpften Taugwalder hervor, der nicht länger hätte widerstehen können, eine rettende Hand erschienen sei, diejenige von Whymper, und mit kaltem Stahl und sicherem Schnitt das Seil durchgehauen habe, an dem der junge Lord Douglas und die anderen Freunde in Todesnot hingen. Dann sei Whymper etwas vorgetreten, um den Todeskampf der von Fels zu Fels rollenden Gefährten zu beobachten.

  Die schweizerische Presse, speziell die von Abraham Roth, einem Mitbegründer des SAC, redigierte "Sonntagspost" und der "Anzeiger von Interlaken", in einem anonymen Artikel, der wahrscheinlich von der Hand Peter Obers stammt, nahm sofort vehement Stellung gegen die Version vom Seilschnitt, wobei sich die schweizerische Presse auf den ersten Originalbericht Whympers und auf die Aussage der beiden Taugwalder stützte. Leider hat Whymper selbst der Bildung solcher Gerüchte Vorschub geleistet, einmal durch sein rücksichtslos - ichbezogenes Wesen und dann durch allerlei dunkle und verhüllte Verdächtigungen, die er selbst gegen die beiden Taugwalder in Umlauf setzte. Whymper selbst ist nicht frei von Lust zu sensationeller Ausschmückung - man denke an die Geschichte der Erscheinung der Kreuze an der Wolkenwand am Abend nach dem Unglück - aber er versteht es, seine Geschichte zum Verkauf an das Publikum geschickt in eine Hülle nüchternster Sachlichkeit einzupacken.

  Trotzdem kein geringerer als der streitbare Rev. W. A. B. Coolidge, selbst ein anglikanischer Kleriker, 1921 im hohen Alter, aus angeblich zuverlässiger Quelle eines Geistlichen, dem Whymper vertrauliche Aussagen gemacht haben soll, die Geschichte vom durchgeschnittenen Seil noch einmal auftischt, muß sie als abgetan gelten. Sie ist schon aus realkritischen Gründen nicht haltbar. Wenn Whymper und Taugwalder allein, an die Felsen angeklammert, die vier andern, die angeblich ohne Halt am Seil hingen, hätten halten müssen, wäre es ganz unmöglich gewesen, daß einer von beiden sich hätte aus seiner Stellung begeben oder auch nur eine Hand loslassen können, um das Seil zu durchschneiden.

  Aber auch die Version vom Riß des Seils bietet noch genug Unklares. Es steht fest, daß zwischen Lord Douglas und Vater Taugwalder ein Stück des beschriebenen schwächeren Seils war, das Whymper vor Einführung des offiziellen Clubseils verwendet. Sofort - wieder durch die Anspielung Whympers genährt - bildete sich die Legende, Taugwalder habe absichtlich zwischen sich selbst und Douglas dieses Seil verwendet in der Erwartung, daß es bei einem Sturz der vier Vordermänner reiße. Auch die ist absurd und wirkt zurechtkonstruiert - wie hätte auch der einfache Taugwalder mit einer gewissen Sicherheit berechnen oder schätzen können, daß dieses Seil unter bestimmten Umständen dann wirklich reiße ... Vor Gericht hat Taugwalder bestimmt und klar ausgesagt, daß er dieses Seil im Augenblick, als er Douglas anseilte, für gut gehalten habe. Whymber und Taugwalder übereinstimmend aus, daß das Seil nicht etwa an einer scharfen Felskante durchgeschnitten wurde, sondern in freier Luft riß. Dann klingt aber die Aussage Whympers etwas unwahrscheinlich, wonach im Augenblick des Sturzes er und Taugwalder sich nur gegen die Felsen gestemmt und angeklammert hätten. Eine Zugkraft, die so groß gewesen wäre, daß sie ein gutes, wenn auch etwas dünnes Seil hätte zum Reißen bringen können, hätte wahrscheinlich Taugwalder und Whymper auch aus ihrer Stellung werfen müssen. Interessant ist die aussage Whympers, daß vom Augenblick des ersten Schreis von Croz bis zum Nachstürzen von Hudson und Douglas eine gewisse Spanne verstrich. Die Aussage von Vater Taugwalder, daß er Zeit gefunden habe, ein Stück des Seils, das zwischen ihm und Whymper auch nicht gestrafft war, um einen Felsen zu schlingen, klingt daher glaubwürdig, und es dürfte damit tatsächlich mit großer Wahrscheinlichkeit angenommen werden, daß es die Geistesgegenwart Taugwalders war, welche den drei übrigen das Leben rettete.

  Whymper weiß wenig von Dank an die Taugwalder. Er beschuldigte sie völlig seelischen Zusammenbruches nach dem Unglück und allerlei dunkler Absichten, während er selbst sich in die Rolle des Geistesgegenwärtigen hineinspielte. Hinzu kam noch diese «Überirdische Erscheinung ... wie ein Bote aus einer anderen Welt». Sicher ist, daß die drei in völligem Zerwürfnis schließlich abstiegen und in einer Höhe von noch rund 4100m von der einbrechenden Nacht überrascht wurden. Whymper erklärt den langen Zeitverlust damit, daß sie noch nach ihren Gefährten gesucht hätten. Die Nacht verging, ohne daß zwischen Whymper einerseits und den beiden Taugwalder andererseits ein Wort gewechselt wurde - wobei zu sagen ist, daß dies schon aus sprachlichen Gründen nicht gut möglich war. Am Morgen brachen die drei Überlebenden von ihrem Biwakplatz auf und erreichten Zermatt um 10.30 Uhr.

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Letzte aktualisierung am Donnerstag, 12. Februar 2004